Programm für demokratisches Handeln und gegen Extremismus

Gut beraten

Das Gemeinwesen lebt vom freiwilligen Einsatz seiner Mitglieder. Doch besonders dort versuchen auch extremistisch gesinnte Kräfte Fuß zu fassen. Daher hilft ein Programm den mitgliederstarken Verbänden im Land, sich neu aufzustellen, um zu intervenieren.
Tom Waurig hat sich für das Magazin "Couragiert" in einigen Projekten von "Zusammenhalt durch Teilhabe" genauer umgeschaut.


Fußball-Romantiker schwärmen oft von den Spielen in unteren Ligen. Dort, wo der Sport noch gelebt werde. Doch gerade bei den Amateuren kommt es immer wieder zu brutalen Fouls – körperlich wie verbal. Schiedsrichter werden bedroht, attackiert und getreten, Gegenspieler rassistisch beleidigt, aus Rudelbildungen auf dem Spielfeld werden Massenschlägereien. Und aus den Reihen des Publikums abseits des Platzes sind neonazistische Parolen zu hören. Kaum ein Spieltag vergeht inzwischen ohne Spielabbruch. Je tiefer die Liga, desto größer die Entgleisungen, klagen Beobachter. Mehrere hundert Spiele finden an einem Wochenende allein in Sachsen-Anhalt statt. Dort ist auch das Einsatzgebiet von Helge Tiede und seinem Team. Seit gut vier Jahren leitet der Mittfünfziger ein Präventionsprojekt im Landessportbund, das dem Verband und seinen Mitgliedern dabei helfen soll, einen Umgang mit rechtsextremen Tendenzen und Vorurteilen zu finden. Dafür wurden Ehrenamtliche ausgebildet, die im ganzen Land unterwegs sind, um Vorträge zu halten und bei Vorfällen zu intervenieren.
Die Freiwilligen sind über mehrere Wochen geschult worden, zwischen Konfliktparteien zu vermitteln und ein Verfahren zur Lösung vorzuschlagen, das sie persönlich begleiten. 20 solcher Beraterinnen und Berater sind bis heute für das Projekt tätig, dazu vier Hauptamtliche. Sie halten Vorträge und Seminare – für Übungsleiter oder Schiedsrichter, bei Lehrgängen und in Sportakademien. Als größten Meilenstein benennt Tiede die Verankerung der Projektinhalte in der sogenannten Rechts- und Verfahrensordnung des Fußballverbandes in Sachsen-Anhalt. Bei Regelbrüchen oder unsportlichem Verhalten können Sportgerichte nicht mehr nur Geldstrafen und Sperren verhängen, sondern ebenso Auflagen, „die einen erzieherischen Charakter haben“. Das kann im Fall eines rassistischen Vergehens bedeuten, an einem Workshop von Helge Tiedes Beratern teilzunehmen. Deren Portfolio reicht von Extremismus über Cybermobbing und Homophobie bis hin zur Prävention sexualisierter Gewalt. Die Anfragen werden im Umlaufverfahren verteilt – wer will, meldet sich. Aufgetreten wird im Duo.

Auf dem Foto sieht man einen Mann mit Brille auf einem Fußballfeld.
Helge Tiede//Foto: Roman Schmidt
„Es geht nicht um die bloße Strafe“, erklärt Helge Tiede, „sondern vielmehr darum, nach Vorfällen in Vereinen, unter Zuschauern oder auf dem Spielfeld in die Auseinandersetzung zu gehen.“ 100 dieser Art Vergehen werden jedes Jahr betreut. Sich mit heiklen Themen an das Projekt im Landessportbund zu wenden und damit einzugestehen, dass es ein Problem gibt, sei weiterhin noch ein Hemmnis. „Ich würde es nicht als abgeschlossen Prozess betrachten“, stellt Tiede klar. Die Hürde sei dann besonders niedrig, wenn tatsächlich schon etwas vorgefallen oder das mediale Interesse groß ist. Andernfalls gebe es auch Beispiele, wo Probleme kleingeredet würden, zum Beispiel wenn es einen bekennenden Neonazi im Verein gibt. Tiede ist mit den üblichen Erklärungsversuchen vertraut, wie: „der macht ja nichts“, „der sagt ja nichts“. Langfristig aber nehme der Zusammenhalt im Sport durch Ausgrenzung Schaden. Bedarf gibt es daher nicht nur im Fußball, sondern auch von Seiten des Basketballs, im Judo oder aus dem Kampfsportbereich, „weil ihnen von außen das Label ‚Nazi-Verein‘ zugeschrieben wird, sie das aber entschieden ablehnen“.

Sport als verbindende Instanz

Gemeinsam wird dann nach Strategien gefahndet – auch dann, wenn sich Sportvereine angesprochen fühlen, sich an Aktionsbündnissen gegen Rechtsrockkonzerte in ihrer Stadt zu beteiligen. Seit Anfang des Jahres übernimmt das Projekt noch eine weitere Aufgabe im Gemeinwesen des Landes, nämlich die Vernetzung kommunaler Strukturen. „Wir müssen dahingehen, wo es stinkt“, resümiert Tiede – in Gegenden also, wo sich die Politik zurückgezogen hat. „Lost places“, „vergessene Orte“, wie er diese nennt. Anfangs wurde die Situation analysiert und bei den lokalen Sportvereinen abgefragt, was läuft und angeboten wird. In zwei Kommunen sind sie nun, um im Bild zu bleiben, bereits am Ball. Tiede will eine Alternative zum Treff an der Bushaltestelle schaffen, ein Gegenangebot zur Einöde, die den „Nährboden für undemokratische Einstellungsmuster schafft“. Rückhalt für das Projekt kommt auch aus der Verbandsspitze, die regelmäßig den Kontakt sucht: „Ohne vermessen zu klingen, der Vorstand hat den Extremismus als eines der zentralen Themenschwerpunkte angenommen“.
Gewachsen sei das Projekt außerdem im Umgang mit einem Fußballverein, der sich nahezu komplett aus rechtsextremen Hooligans zusammensetzte. Helge Tiede spielt an auf den früheren Kreisligisten FC Ostelbien, der aus Mitgliedern der „Blue White Street Elite“, einer Neonazi-Gruppierung aus dem Umfeld des 1. FC Magdeburg bestand und auch vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Tiede war damals mehrere Male auf dem Dorfsportplatz im sachsen-anhaltinischen Leitzkau zugegen, um sich selbst ein Bild machen zu können. Es gab Übergriffe auf Schiedsrichter und gegnerische Spieler, die im Spielbericht oft nicht auftauchten und von Seiten der Justiz kaum ermittelt worden sind – die Angst war groß. Auch außerhalb des Platzes war die Gruppe nicht zimperlich: Schlägereien, Hausbesuche, Überfälle auf Migranten. Im Herbst des vergangenen Jahres wurde der FC Ostelbien schließlich vom Spielbetrieb und aus dem Fußballverband ausgeschlossen. Tiede war mit der Aufarbeitung betraut, half beim Erstellen eines Lagebildes und stand den Verantwortlichen mit Rat zur Seite.
Heute, mit etwas Abstand, erklärt er: „Einen direkten Kontakt zum Verein hatten wir nicht. Das ist ein Fehler, den ich mir schon ankreide. Dennoch wären wir damit an unsere Grenzen gestoßen. Aber mit einem Ausschluss verbieten wir ja nicht deren Gesinnung. Was passiert, wenn die Spieler in anderen Vereinen Fuß fassen? Ich bin überzeugt, dass wir immer erst versuchen sollten zu integrieren, statt auszuschließen.“ Im Fall Ostelbien gab es diese Chance hingegen kaum. Die gesellschaftliche Situation, speziell im Osten, hat sich seitdem auch nicht wirklich entspannt, sondern ist mit der Aufnahme von Flüchtlingen weiter verschärft worden – auch in Sachsen-Anhalt. Eine Untersuchung von Psychologen der Universität Leipzig zeigt, dass ausländerfeindliche Haltungen dort am weitesten verbreitet sind: 42,2 Prozent der Befragten stimmten Aussagen zu wie: „Die Ausländer kommen nur hierher, um den Sozialstaat auszunutzen.“ Solche Einstellungen zeigen sich auch im Umfeld des organisierten Sports, dem als gesellschaftlich verbindende Kraft eine besondere Verantwortung zukommt, zu handeln.

Grenzen des Beratungsauftrags

Lutz Battke war lange das wohl prominenteste Beispiel: Der Mann mit Hitlerbart und Vokuhila-Frisur saß nicht nur für die NPD im Kreistag des Burgenlandkreises, sondern trainierte mehr als zehn Jahre den Fußballnachwuchs des Lauchaer BSC 99 – bis der Verband schließlich eingriff. Auch die Rivalität zwischen dem Halleschen FC und dem Fußballklub aus Magdeburg ist ein langanhaltendes Problem. Im Oktober 2016 kam der Magdeburger Fan Hannes S. nach dem Sturz aus einem fahrenden Zug ums Leben, es war der zweite Tote im deutschen Fußball seit 1982. Zuvor soll es zu Auseinandersetzungen mit Hooligans aus Halle gekommen sein. Ob er allerdings aus dem Zug gestoßen wurde oder in Panik heraussprang, ist bis heute nicht geklärt. Damit sich Helge Tiede diesen Problemen annehmen kann, gibt es seit 2011 das Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“, das Verbände unterstützt, ihr gesellschaftliches Bewusstsein zu stärken und ausgrenzende Vorfälle oder Strukturen zu bearbeiten.
In den letzten sechs Jahren wurden etwa 1000 ehrenamtliche Demokratieberaterinnen und -berater ausgebildet, die Konflikte bearbeiten, Möglichkeiten der Mitbestimmung ausweiten oder für rechtsextreme Tendenzen sensibilisieren. „Unser Ansatz ist, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die innerhalb ihrer Organisationen mit den Strukturen, Abläufen und Hierarchien vertraut sind. Die sprechen die Sprache ihres Verbandes und können die oft technischen Begriffe der politischen Bildung einfach am besten übersetzen“, so die Leiterin der Regiestelle des Programms Lan Böhm. Angesprochen sind besonders mitgliederstarke Organisationen wie Feuerwehr, Sport, THW oder Wohlfahrtsverbände von AWO über DRK bis zur Diakonie. Auch Kirchen oder Jugendvereine gehören dazu. Während sich das Programm in den ersten Jahren auf den Osten konzentrierte, wurde es nun auf ganz Deutschland ausgeweitet. „Die Auseinandersetzung mit undemokratischen Verhaltensweisen ist keine Herausforderung, die sich nur auf die neuen Bundesländer beschränkt“, benennt Böhm die Gründe.

Sensibel für Rechtspopulismus

Neu dabei ist unter anderem der Verein für ländliche Erwachsenenbildung in Niedersachsen – kurz: LEB. An dessen 13 Standorten, die über das gesamte Bundesland verteilt sind, werden Kurse zu ganz unterschiedlichen Themen angeboten, an denen nach eigener Aussage jedes Jahr ungefähr 140 000 Menschen teilnehmen. In nächster Zeit sollen nun Demokratieberaterinnen und -berater ausgebildet werden – erst im internen Kreis, später ehrenamtliche Engagierte aus den vielen Vereinen, die zum Netzwerk der LEB gehören. Etwa 150 sind das in jeder Region, von Volkshochschulen und Landfrauen über die biologische Schutzgemeinschaft bis hin zu Organisationen der Jugendhilfe. Diese würden schon einen Problemdruck anzeigen, zum Beispiel im Umgang mit rechtspopulistischen Äußerungen. Den Engagierten wolle man aus diesem Grund größere Handlungssicherheit vermitteln.
Auf dem Bild spricht ein Mann.
Samuel Loos//Foto: Björn Küssner
Zum Kerngeschäft der LEB gehört die Beratung bei Bildungsangeboten für Vereine und Gruppen im ländlichen Raum. Gerade dort würden sich kleine Vereine an Gruppierungen stören, die durch ein Dorf marschieren oder sie suchen nach Aufklärung bei szenetypischen Kennzeichen. In den Städten würde es dazu entsprechende Angebote geben, die auf dem Land oftmals fehlten, sagt Wendy Ramola, die am LEB-Standort in Göttingen seit zwei Jahren für die politische Bildung zuständig ist und zusammen mit ihrem Braunschweiger Kollegen Samuel Loos und zwei weiteren Mitarbeitern das neue Vorhaben umsetzen soll. Loos ist ausgebildeter Sozialarbeiter und koordinierte vorher lange die Sprachkurse für Geflüchtete. Im Moment sind er und Ramola viel unterwegs, treffen Absprachen mit Dozenten oder werben potentielle Kandidaten an. „Die ersten Gespräche waren positiv und ich bin optimistisch, dass wir auf offene Ohren stoßen“, so Loos. Im Winter findet das erste Seminar statt, auf der Agenda stehen Moderationstechniken und der Umgang mit demokratiefeindlichen Einstellungen.
„Wenn man in einem solch diffizilen Themenfeld als Berater tätig wird, ist es entscheidend, dass man vorsichtig vorgeht und niedrigschwellig ansetzt, um auch niemandem etwas zu unterstellen, das den Prozess von vornherein stören könnte“, verdeutlicht Loos. Den Impuls für das Projekt gab die LEB in Magdeburg. „Die Teilnehmenden waren also schon da, bevor es überhaupt das Projekt gab“, ergänzt Wendy Ramola. Heutzutage nehme sie schon wahr, dass Menschen wieder offener geworden sind für Angebote politischer Bildungsarbeit. „Es gibt eine höhere Sensibilität und gleichzeitig das Wissen um den Bedarf.“ Im ersten Schritt des Projektes entsteht eine Fortbildungsreihe für das elfköpfige Präsidium, um deren Demokratieverständnis zu festigen. Die Hoffnung von Ramola und Loos ist, dass solche Schwerpunkte noch mehr Platz in der ländlichen Erwachsenenbildung finden und Vereine sich in Zukunft Hilfe holen können. Sobald sich die Beratungen für den Raum Braunschweig und Göttingen bewährt haben, soll dieses Modell bis 2019 auf ganz Niedersachsen ausgeweitet werden, „aber immer Schritt für Schritt“.

Arbeit, Armut und Ausgrenzung

Ähnliches vorgenommen hat sich Ines Nößler vom Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration (EFAS) mit Sitz in Stuttgart. Der Verband kümmere sich besonders um die Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen, „eine gesellschaftliche Randgruppe, die Ausgrenzung und Stigmata erlebt“. Diesen Eindruck bestätigen auch die sogenannten Mitte-Studien, die alle zwei Jahre im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erscheinen. Gleichbleibend hoch ist demnach mit 49 Prozent die Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Seit in den vergangenen Jahren vermehrt Geflüchtete in Deutschland aufgenommen wurden, entbrannte ein heftiger Konkurrenzkampf um künftige Arbeitsplätze, erzählt Nößler. Unter den Arbeitssuchenden gab es die klassischen Ressentiments wie: „Die bekommen alles und für uns wird nichts mehr getan“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des EFAS würden zwar über die beruflichen und pädagogischen Kompetenzen verfügen, so die Projektverantwortliche, aber mit der Art von Konfrontation seien viele überfordert gewesen. Das habe man zu Jahresbeginn zum Anlass genommen, „sich neu aufzustellen“.
Die künftigen Demokratieexperten werden deshalb geschult, um sie im Verband als Kontaktpersonen zu etablieren und neben arbeitsmarktpädagogischen Angeboten auch Demokratiebildung anbieten zu können. „Bei Langzeitarbeitslosen haben wir es mit einer Gruppe zu tun, die sich komplett von Politik abgewendet hat und für die sich aber gleichzeitig auch kaum jemand interessiert“, weiß Nößler. Die Beschäftigten sollen in den nächsten Jahren befähigt dazu werden, entsprechende Angebote mit den klassischen Arbeitsmarktmaßnahmen zu kombinieren. Die EFAS gehört zur Kategorie Bundesverband, der sich in gleich 14 Diakonische Werke aufteilt und gut 15 500 Beschäftigte zählt. Besonders in der Fläche sei man gut aufgestellt – von Konstanz bis Hamburg, von Görlitz bis Aachen, verdeutlicht EFAS-Geschäftsführerin Katrin Hogh. Die Institution pflege darüber hinaus häufig enge Kooperationen mit öffentlichen Stellen: Aufsichtsräte etwa, aber auch kommunale Verwaltungen. So gebe es die Chance, in den gesellschaftlichen Raum hinein zu wirken und vor allem abgehängte Schichten zu erreichen.
Baden-Württemberg diene gewissermaßen als Experimentierfeld, sagt Hogh, „um diese Erfahrungen später auch in den anderen Landesteilen nutzen zu können“. Die Ausgangslage und die Situation von Langzeitarbeitslosen seien überall identisch. Ganz im Süden bestehen nun gleich zwei Diakonische Werke, die seit einigen Monaten in den Fokus gerückt, aber doch sehr unterschiedlich strukturiert sind. Das mache es einerseits nicht ganz leicht, anderseits besonders spannend. Um zu erfassen, wo der Schuh drückt, werden momentan Interviews geführt und Fragebögen ausgewertet. Parallel dazu werden die ersten Qualifizierungsmodule entwickelt und erprobt. Ines Nößler denkt beispielweise an eine Fortbildung zur gewaltfreien Kommunikation, „um Ausgrenzungsmechanismen zu hinterfragen“. Diese Themen hätten heute, auch in den Einrichtungen, die der Verband betreut, mehr Präsenz, weil die Gefahr präsenter sei, in sozial schlechter gestellte Kreise zu geraten. Ein wesentlicher Schritt wird also sein, bewertet Nößler, die Relevanz der Themen in die Gremien zu tragen. Den Beweis, dass dies tatsächlich funktionieren kann, hat Helge Tiede im Sport schon angetreten.

Das Projekt des Landesportbundes in Sachsen-Anhalt finden Sie hier.