Programm für demokratisches Handeln und gegen Extremismus

Das Einmaleins der Demokratie - Impulsvorträge von Jürgen Wiebicke und Prof. Dr. Sebastian Braun

Philosoph, Autor und WDR-Radiomoderator der eine, Sportsoziologe, Integrations- und Migrationsforscher und Professor an der Humboldt-Universität der andere – mit der Auswahl ihre Keynote-Sprecher hat die Regiestelle zum Auftakt der Fachkonferenz deutliche Akzente gesetzt. Beide setzen sich, aus jeweils anderer Perspektive, ebenso kritisch wie liebevoll mit aktuellen gesellschaftlichen Prozessen auseinander. Jürgen Wiebicke veröffentlichte zuletzt das Handbuch „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“, Dr. Sebastian Braun untersucht bürger-schaftliches Engagement nicht nur in der deutschen Vereinslandschaft und berät u.a. das Bundesfamilienministerium.

Durch ein nervöses Land
Kürzlich habe er festgestellt, dass er sich in der Gesellschaft nicht mehr auskenne, erzählte Jürgen Wiebicke. Worauf er seinen Rucksack gepackt habe und einen Monat lang ziellos durchs Land gelaufen sei. An einem Tag sprach er mit einem Unternehmer mit 6.000 Mitarbeiter/-innen darüber, was eigentlich soziale Verantwortung sei. Am nächsten Tag erklärte ihm ein Dortmunder Flaschensammler, wie seine Route zustande komme, und so weiter. Der gemeinsame Nenner aller Gespräche sei das Gefühl von Nervosität gewesen: „Diese Gesellschaft hat Atemnot. Ihr fehlt Zeit zum Nachdenken darüber, was gerade passiert.“

Ein Mann hält einen Vortrag.
Philosoph und Journalist Jürgen Wiebicke

Aber er brachte auch eine gute Nachricht von seiner Wanderung mit: „Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die auf dem Sprung sind. Die nach 20 Jahren ziemlich ausgeprägter Egogesellschaft gemerkt haben, dass man was tun muss für gesellschaftlichen Zusammen-halt.“ Das Problem sei nur, dass die meisten nicht mehr wüssten wie das geht.

Ein Beispiel, wie es funktionieren kann, erlebte der Autor direkt vor seiner Haustür, mitten in Köln. An einem sozialen Brennpunkt haben Anwohner das Projekt „Höviland“ etabliert: eine Ferienfreizeit im eigenen Stadtpark für 500 „harte Ghettokids“, die sich keinen Urlaub leisten können. Wiebicke entwickelte daraus die zweite seiner zehn Regeln: Mache dir die Welt zum Dorf. Gute Verhältnisse habe er überall dort gefunden, wo die Menschen nicht aus einer Pflicht heraus handelten, sondern weil sie sich ein Leben ohne soziales Engagement gar nicht vorstellen können. Weil sonst etwas am Menschen verkümmert, so Wiebicke.


Liebe deinen Verein!
Auf drei Ebenen untersuchte Prof. Braun das deutsche Vereinswesen der letzten 30 Jahre. Auf der ersten betrachtet er das individuelle Engagement und Beteiligung der Mitglieder, auf der zweiten die Art und Weise, wie die Organisationen sich immer stärker von ihrer Mission entfernen und hin zu ökonomischen Überlegungen entwickeln, auf der dritten Ebene schließlich zieht er die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge hinzu und stellt die rhetorische Frage: „Warum sollte ich eigentlich Mitglied sein? Ist es nicht besser eine Kundenbindung einzugehen und zu gucken wo der beste Serviceprovider ist?“

Mann beim Vortrag.
Sportsoziologe Prof. Dr. Sebastian Braun (Humboldt-Universität Berlin)

Er wolle nun nicht gegen notwendige Modernisierungsprozesse reden, so der Soziologe, zugleich aber erkennt er den Strukturwandel der traditionellen Vereine und Verbände als „ein ernstzunehmendes demokratiepolitisches Problem“. Deutlich erkennbar sei diese Entwicklung in den Unterschieden zwischen altem und neuem Ehrenamt. An das klassische traditionelle Ehrenamt in Kirche, Sportverein, die Feuerwehr sei man durch Familie und Freunde herangeführt worden, man wuchs da gewissermaßen hinein, engagierte sich vereinspolitisch, betrieb Rede und Gegenrede. „Dort wurde das Einmaleins der Demokratie eingeübt.“ Das neue Ehrenamt sehe diese Bindung nicht vor: „Man bringt sich zeitlich befristet in Projekten ein, engagiert sich zweckrational und nur noch so lange, wie Motiv, Anlass und Begebenheit zusammenpassen.“
Die wesentliche Funktion, als stabile Institution dauerhaft Demokratieförderung zu betreiben, können Vereine mit diesem Personal nicht mehr erfüllen.

Professor Braun setzt auf die Trendwende, erlebe er doch eine „Renaissance einer Debatte, die wir einst unter dem Thema Vereine als Schulen der Demokratie geführt haben.“ Retro sei wieder ein bisschen angesagt, das bestätigten ihm auch seine Student/-innen. Den anwesenden Akteuren gab er eine eindeutige Empfehlung: „Liebe deinen Verein! Damit ist schon viel getan.“ Und Jürgen Wiebicke wird seinem Buch ein elftes Kapitel anhängen müssen.