Vom Anspruch zur Realität: Wie die Johanniter Diversität fördern
„Die Wirklichkeit kann man ändern, eine Fiktion muss man aufs Neue ersinnen“, soll der polnische Schriftsteller Stanislaw Lec einmal gesagt haben. Und wenn das Leitbild einer Organisation die Fiktion ist und die tatsächlichen Handlungen seiner Mitglieder die Wirklichkeit, dann hat Lec eine gute Nachricht für die Johanniter. Die Wirklichkeit sieht nämlich so aus, dass bei den Johannitern, einer der größten christlichen Hilfsorganisationen in Deutschland, rund 86.000 haupt- und ehrenamtlich Beschäftigte arbeiten. So viele Menschen geben ein gutes Abbild der Gesellschaft wieder – und man kann annehmen, dass sie nicht alle mit beiden Beinen fest auf demokratischem Boden stehen .
Die Johanniter-Unfall-Hilfe hat zahlreiche Aufgaben. Sie leistet Erste Hilfe, Sanitätsdienst, Rettungsdienst, Hausnotruf und ist auch im Bevölkerungsschutz, in der Kinder- und Jugendhilfe und beim Thema Flucht und Migration aktiv. Mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden sind ehrenamtlich tätig. Für alle gelten natürlich jene Werte, die im Leitbild der Organisation festgeschrieben sind: Toleranz, Respekt und Gleichbehandlung von allen Menschen unabhängig von ihrer Religion, Nationalität oder Kultur. In der Realität werden diese Werte nicht von allen gelebt. Im September 2022 veröffentlichte die taz eine Recherche über Rechtsextremismus und Rassismus im Rettungsdienst – auch bei den Johannitern. Von rassistischen Witzen in Chatgruppen war da die Rede und rechtsextremer Propaganda auf Rettungswachen. Die Empörung war groß. Aber wenn man die Wirklichkeit ändern kann, dann kann man auch auf dieses Verhalten Einfluss nehmen. Also versprachen die Johanniter Aufklärung – und tatsächlich ist es so, dass intern schon seit längerem daran gearbeitet wurde, demokratische Werte im gesamten Unternehmen zu stärken.
Mangelndes Bewusstsein, vor allem aber: Überlastung
„Wir wissen aus Befragungen von Mitarbeitenden, dass es manchmal ein mangelndes Bewusstsein gibt für die Themen Diversität und Diskriminierung“, erklärt Marie Henners, die beim Landesverband Niedersachen/Bremen der Johanniter-Unfall-Hilfe als Zentralbereichsleiterin Strategie tätig ist. In dieser Funktion begleitet sie das Projekt „mitWirkung! Mitreden. Mitgestalten. Teilhaben“, das vom Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ gefördert wird.
Schon in den Jahren 2016 bis 2019 hatten die Johanniter Schulungen zu interkultureller Kompetenz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeboten. Das Problem: Nicht alle Mitarbeitenden schaffen es teilzunehmen. „Wir können den Pflegedienst ja nicht ausfallen lassen, wenn Kollegen oder Kolleginnen krank sind. Dann kann die angemeldete Person nicht zur Weiterbildung.“ Man habe aber auch festgestellt, „dass diese Themen nicht immer die entsprechende Priorität bei Mitarbeitenden und ihren Führungskräften hatten“, sagt Henners.
Wer beim Rettungsdienst tätig ist oder in der Pflege, kann sich über Leerlauf nicht beschweren. Personalmangel führt zu Überstunden, und auch ohne die Mehrarbeit ist der Job belastend. „Wenn Teilhabe und die Förderung von Diversität etwas ist, was noch zusätzlich erledigt werden muss, dann klappt das nicht,“ weiß Henners. Daher hat sich das Projektteam darauf konzentriert, Methoden zu vermitteln, die man in den Alltag integrieren kann. „Wir wollten möglichst viele Mitarbeitende erreichen und einen großen Multiplikationseffekt haben.“ Deshalb habe man sich dafür entschieden, mit der Führungsebene und Schlüsselpersonen in beratenden Funktionen zu arbeiten. „Die haben einen entsprechend großen Wirkungskreis“, fasst Henners zusammen, „sie können als Vorbilder agieren und Strategien zur Mitgestaltung und Teilhabe in den Verband tragen.“
Diversität ist jetzt eine Führungsaufgabe
In Führungswerkstätten wurde nicht nur zu den Themen Transparenz, Vielfalt und Antidiskriminierung sensibilisiert. Es wurden und werden auch im Rahmen der Führungskräfteentwicklung Methoden vermittelt, die den Führungskräften helfen, diese Themen in ihren Arbeitsalltag mit den Kolleg/-innen zu integrieren. In kleineren Projektgruppen wird auch nach den Weiterbildungen zum Beispiel daran gearbeitet, wie eigentlich die Stellenausschreibungen im Verband formuliert sind, wer genau damit – auch unbewusst und unterschwellig – angesprochen wird und wer eben nicht. Andere arbeiten zu geschlechtergerechter Sprache oder setzen sich damit auseinander, wie jene Menschen aktiver an Teamsitzungen teilnehmen können, die sich normalerweise – aus welchen Gründen auch immer – stark zurückhalten.
Natürlich gab es Widerstand. „Wir sprechen von den Corona-Jahren“, erklärt Henners, „da haben ohnehin alle rotiert, weil so viel passiert ist. Ständig kamen neue Aufträge, immer wieder gab es Anfragen von Kommunen – und dann auch noch die Führungswerkstätten.“ Glücklicherweise erkannte die Mehrheit der Führungskräfte, wie wichtig Themen wie Transparenz, Vielfalt, Antidiskriminierung und Teilhabe gerade zu diesem Zeitpunkt für den innerverbandlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt sind. Sie haben das Thema gepusht und seine Relevanz betont.
Marie Henners blickt recht zuversichtlich auf das Projekt zurück. Was auch daran liegt, dass über die Führungswerkstätten hinaus Menschen, die ohnehin schon an bestimmten Knotenpunkten sitzen, jetzt auch ihre Beratungsmethoden allgemein und insbesondere im Kontext Diversität und Antidiskriminierung weiter entwickelt haben. Das sind neben Führungskräften auch Mitarbeitende in Bereichen wie Qualitätsmanagement, Praxisanleitung von Auszubildenden oder die Mitarbeitendenvertretungen – Stellen also, die täglich andere Beschäftigte beraten.
„Wir haben schon gemerkt, dass sich bei uns in der Organisation sichtbar etwas verändert hat“, sagt Henners. Sie erzählt von Ortsverbänden, die sich aktiv zum Sanitätsdienst für Demonstrationen gegen rechts melden, oder solchen, die am CSD teilnehmen. „Es herrscht ein anderes Bewusstsein und ein anderes Selbstverständnis, das wird uns ganz klar zurückgemeldet.“ Es herrscht – eine andere Wirklichkeit. Und die scheint, langsam aber sicher, besser zur Fiktion und damit dem Leitbild der Johanniter zu entsprechen.