Politische Bildung in ländlichen Räumen: Wie sich demokratische Teilhabe vermitteln lässt
Viele Traktoren, Schafe und romantische Sonnenuntergänge – wer in den sozialen Netzwerken nach „Landleben“ sucht, stößt auf idyllische Bilder. Die Luft auf dem Land ist besser, die Mieten günstig, der gemeinschaftliche Zusammenhalt häufig stärker, weil sich hier irgendwie alle kennen und man sich aufeinander verlassen muss. Viele Menschen sind glücklicher in ländlichen Gegenden, und auch, wenn das kulturelle, zivilgesellschaftliche und politische Angebot vielleicht dünner ausfällt als in den großen Ballungszentren, gibt es Menschen, die die viel bewegen können.
Solche ländlichen Gegenden findet man, einer Studie des Thünen-Instituts aus dem Jahr 2020 zufolge, vor allem im süddeutschen Raum. Dort gibt es blühende Landschaften, Dörfer, denen man das Geld ansieht. Je weiter man aber nach Norden schaut, desto seltener werden die Blumen, und desto häufiger sind die Straßen marode, die Bahnstrecken stillgelegt und die Bushaltestellen verfallen. Im Osten Deutschlands ist dann Sense. Dort gibt es keine ländliche Region mehr, die sozio-ökonomisch gut aufgestellt ist. Wer dort lebt, ist häufig – abgehängt.
Wo nicht mehr viel übrig ist, kann wenig erwartet werden
Zum Beispiel in Sachsen-Anhalt. In mancher Gemeinde an der Grenze zu Brandenburg oder im dünn besiedelten Burgenlandkreis im Süden des Bundeslandes bröckeln nicht nur die Bordsteinkanten. Es bröckeln auch der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Überzeugung, dass Engagement und der Einsatz für ein gutes Miteinander, das, was man gemeinhin „demokratische Teilhabe“ nennt, ein positiver Wert an sich sein könnten. „Wir haben es hier teils mit Gegenden zu tun, in denen es nichts mehr gibt, aus dem sich alle gesellschaftlichen Strukturen zurückgezogen haben“, sagt Susanne Brandes, die für den Verein Katholische Erwachsenenbildung im Land Sachsen-Anhalt e.V. arbeitet und die demokratische Teilhabe zurück aufs Land bringen will. Das ist ein großes Vorhaben.
Bei den Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 haben fast 30 Prozent der Wahlberechtigten im Burgenlandkreis die AfD gewählt. Bei der am gleichen Tag stattfindenden Europawahl sprachen sich sogar 36,1 Prozent für die Partei aus, der in Sachsen-Anhalt vom Verfassungsschutz im November 2023 attestiert wurde, eine „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ zu haben. Das wissen auch die Wählerinnen und Wähler. Aber es kümmert sie nicht – oder sie nehmen es in Kauf, weil die AfD es geschafft hat, sich als Protestpartei gegen „die da oben“ zu etablieren.
Demokratie meint eigentlich einen Lebensraum, den man aktiv mitgestalten kann und für den man dann Verantwortung übernimmt. Diese Überzeugung aber ist vielen abhanden gekommen. Eine Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2023 kam zu dem Schluss, dass zwei Drittel der Ostdeutschen es für sinnlos halten, sich politisch zu engagieren, und kaum jemand glaubt, einen Einfluss auf die Regierung zu haben. Wer hier für mehr gesellschaftliche und politische Teilhabe sorgen will, muss behutsam vorgehen.
Politische Bildung trägt das Stigma der Elite
Hier kommt Susanne Brandes ins Spiel, oder vielmehr das Projekt „Kirche für Demokratie – Verantwortung übernehmen – Teilhabe stärken“, das der Verein Katholische Erwachsenenbildung im Land Sachsen-Anhalt e.V. im Land mit Fördermitteln des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch Teilhabe“ umsetzt. „Angebote der politischen Bildung erreichen häufig Menschen, die sowieso schon stark an Themen wie Teilhabe interessiert sind.“
Ganz anders sehe das aber bei den Menschen aus, an die sich ihr Projekt auch richte „Wir möchten mit Menschen in die Auseinandersetzung gehen, die populistischen Meinungen zugeneigt sind. Die erreichen wir aber gerade in ländlichen Räumen mit politischer Bildung im herkömmlichen Sinne nicht.“
Man habe sich daher gefragt, welche Zugänge eigentlich bestünden, wie man die Menschen, die politische Bildung und die Diskurse eher als elitär und zu akademisch empfinden, erreichen könnte. „Es nützt ja nichts, Themen in Regionen hineinzutragen, die dort keine Rolle spielen. Wir fanden es wichtig zu gucken, was die Menschen vor Ort beschäftigt“, erklärt Brandes. Diesen Menschen wolle man ein Grundverständnis von Demokratie als Lebensform vermitteln. Dazu gehören bestimmte Werte, dazu gehört aber vor allem, teilhaben zu können an Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen.
Kleine Schritte und erst mal vor der eigenen Tür gucken
Das Projektkonzept ist ein Konzept der kleinen Schritte. Und der Transformation im doppelten Sinne. Die These ist: Wenn Menschen lernen, dass sie im Kleinen, da, wo es für sie darauf ankommt, etwas im demokratischen Sinne verändern können, dann hat man einen Anhaltspunkt, im nächsten Schritt vielleicht auch andere Themen – zum Beispiel Vielfalt und Diversität – einzubringen. Die Basis dafür? Zu besprechen, dass insbesondere in den Jahren nach der Wende viele Fehler gemacht worden sind und sich viele Menschen in Sachsen-Anhalt abgewertet und teilweise auch abgehängt fühlen.
Auch viele der Mitarbeitenden eines Bildungshauses im Burgenlandkreis haben sich ungehört gefühlt, ungefragt, ohne Verantwortung, abgehängt. Vor allem die prekär Beschäftigten, deren Position sich in den Coronajahren noch einmal verschlimmert hat. „Hier arbeiten Leute, die immer mit einem Fuß in der Arbeitslosigkeit stehen, was eine permanente Belastung für diese Menschen ist.“ Trotzdem habe sich das gesamte Team im Haus, von der Aushilfe bis zur pädagogischen Fachkraft, Hauskonferenzen gewünscht, um die Mitarbeitenden an Überlegungen und Entscheidungen zu beteiligen.
„Wir haben in manchen Häusern mit streng hierarchischen Führungsstrukturen zu tun, wo Verantwortung nicht delegiert wird und es überhaupt kein partizipatives Leitungsverständnis gibt“, erklärt Susanne Brandes, warum der Prozess ein ganzes Jahr gedauert hat. Die Mitarbeitenden in solchen Strukturen würden oft aufgeben/- Wenn man nie gefragt wird, ist der Traum von Teilhabe sehr schnell ausgeträumt.
Demokratie ist … wenn man plötzlich doch gefragt wird
Ein Jahr lang haben Brandes und ihre Kolleg/-innen das Bildungshaus begleitet – und eines Tages sei der Knoten dann geplatzt. Heute gibt es nicht nur auf lange Sicht geplante Termine für die gewünschten Konferenzen, es werden auch Verantwortlichkeiten delegiert: Sitzungen müssen vorbereitet werden, alle müssen mal die Moderation übernehmen. „Das war ein dickes Brett“, sagt Brandes‘ Kollegin Lucia Kremer. „Aber jetzt läuft es.“
„Das ist eine neue Erfahrung für die meisten Mitarbeitenden aus dem Haus“, ergänzt Brandes und formuliert die Hypothese, dass die Erfahrungen, etwas bewegen zu können, zu etwas beitragen und an etwas teilhaben zu können, übertragen werden, auch ins Privatleben. Darauf aufbauend könne man dann anfangen, weitere Themen in dieses Haus zu tragen. Interkulturelle Begegnungen beispielsweise, oder das Thema Rassismus. „Wir arbeiten an Werten und wir wollen ein Label verleihen, das dann als eine Art Selbstverpflichtung gilt, weiter dranzubleiben und an weiteren Themen zu arbeiten.“
Die Erfahrung, dass das funktionieren kann, dass ihre Arbeit nachhaltig ist, haben Brandes und Co. bereits in anderen Projekten gemacht. Mit einer Pfarrgemeinde beispielsweise. Die hatte sich mit einem Hilferuf an das Projekt gewandt, weil in der Gemeinde oft menschenverachtend über andere gesprochen wurde. Man habe eine Ausstellung mit sogenannten Königsskulpturen des Künstlers Ralf Knoblauch entliehen. Die Königskulpturen stellen Menschen dar, die die Augen geschlossen haben. Das macht sie verwundbar, aus ihnen werden verletzliche Menschen, die man, so die Idee, beschützen müsse. Anhand dieser Skulpturen hat man in diversen Gruppen von Kita bis hin zum Altenheim zum Thema Menschenwürde gearbeitet. „Wir haben gefragt, wo denn bei den jeweiligen Gruppen, bei den einzelnen, die Menschenrechte verletzt würden. Wir wollten weg von einer abstrakten Ebene und ganz konkret mit den Menschen über ihre Bedürfnisse und Erfahrungen sprechen.“
Daraus ist viel mehr entstanden als eine lockere Diskussionsrunde. Die Mitarbeitenden eines Bildungshauses haben beispielsweise ein Fotoprojekt gestartet – mit Geflüchteten. „Das war gar nicht geplant und schon gar nicht gefordert“, sagt Kremer. „Aber sie haben sich das so ausgesucht, sie sind an den Themen drangeblieben.“ Kleine Schritte, gewiss. Aber Teilhabe lässt sich auch in kleinen Erfolgen messen.